Was sind Leerstellen im Erinnern und Gedenken der deutschen Gesellschaft? Diese Frage diskutierte ich am 26. Juni 2025 im Veranstaltungsformats »Gedenkanstoß« der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ). Es fand in der diesjährigen Europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz statt. Der Veranstaltungsreihe ging eine repräsentative Befragung der EVZ zur Erinnerungskultur voraus: Diese weist grundsätzlich ein weiterhin großes Interesse an der Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik zu unterschiedlichen Opfergruppen nach – aber zeigt zugleich, dass das Wissen darüber gering ist und immer mehr Befragte einen ›Schlussstrich‹ unter die nationalsozialistischen deutschen Verbrechen wünschen.
Entgegen dem Mythos der aufgearbeiteten nationalsozialistischen Verbrechen ziehen sich Leerstellen durch die tägliche Arbeit von Gedenkstätten: Sie reichen von geringen Kenntnissen über die etwa 1,5 Millionen Jüdinnen und Juden, die in Osteuropa bei Massenerschießungen durch deutsche Polizei- und SS-Angehörige und ihre Helfer ermordet wurden, bis zu den verleugneten Opfer, an die bis heute kaum erinnert wird.
Die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus
In meinem Beitrag habe ich besonders die lange fehlende Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus und die lange verweigerte Anerkennung der Opfer erläutert. So wurden die Menschen, die als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« verfolgt wurden, erst 2020 vom Deutschen Bundestag als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Diese Leerstelle konnte damit aber keinesfalls einfach ›geschlossen‹ werden. Schließlich lebte kaum noch jemand aus dem Kreis der Verfolgten und ein Beschluss des Parlaments allein ändert noch nicht die Erinnerungskultur. Deshalb ist es wichtig, auf die Lücken hinzuweisen und zu erklären, wie sie zustande kamen. Einen Umgang mit diesen Lücken zu finden, ist auch das Anliegen der Wanderausstellung »Die Verleugneten. Opfer des Nationalsozialismus« der Stiftung Denkmal und der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg.
Im Podiumsgespräch über unterrepräsentierte Verfolgtengruppen drehte sich die Fragen vor allem darum, wie die Überlebenden und die Familien der Ermordeten auch nach 1945 von Staat und Gesellschaft ausgegrenzt wurden – sowohl in der Bundesrepublik und Österreich als auch in der DDR. Schließlich handelte es sich nicht um ein passives Vergessen, sondern ein aktives Verleugnen. Über diese Kontinuitäten des Ausschlusses sprachen auch Elisabeth Desta, die Leiterin des Dokumentationszentrums NSU-Komplex in Chemnitz, und Alexander Walther vom Staatlichen Museum für Archäologie Chemnitz, wo er das Jahr der jüdischen Kultur in Sachsen 2026 vorbereitet – moderiert durch die Journalistin Nora Hespers.
Eine Reihe an Leerstellen im Erinnern
Auf großes Interesse stieß die Problematik, dass es sich bei den verleugneten Opfern häufig Verfolgungsgründe überschnitten: Zum Beispiel waren viele als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« Verfolgte zugleich auch als Roma und Sinti, Jüdinnen und Juden, Homosexuelle oder Patient/-innen im Visier der Behörden. Um das Wissen über diese individuellen Geschichten und die Mechanismen des Terrors zu vergrößern, ist eine enge Zusammenarbeit mit Angehörigen enorm bedeutsam. Sie sind es auch, die eine wichtige Rolle einnehmen können, um das Gedenken an ihre verfolgten Familienangehörigen zu stärken.
Außerdem sprach über Leerstellen im Erinnern Harika Dauth vom Verein Romano Sumnal der Roma und Sinti in Sachsen, Clara Wahl vom Projekt »History in Black« sowie Dr. Andrea Despot als Vorstandsvorsitzende der Stiftung EVZ und Etelka Kobuß, die Migrationsbeauftragte der Stadt Chemnitz. Es wird auch nicht die letzte Veranstaltung der Reihe »Gedenkanstoß« sein. Sie kommt noch in weitere Orte der Bundesrepublik.
Weitere Informationen zur »Gedenkanstoß«-Reihe: https://www.stiftung-evz.de/gedenkanstoss/
Oliver Gaida, wissenschaftlicher Mitarbeiter
