Anfang September 2025 besuchten wir den 104-jährigen Zeitzeugen Nicolaus Blättermann in Lübeck.
Nicolaus, der seit einigen Jahren, nach dem Tod seiner Frau, bei seinem Sohn, dem Künstler René Blättermann, und dessen Frau in Lübeck lebt, lud uns zu sich nach Hause ein. Wir wurden mit offenen Armen und in großer Herzlichkeit und Gastfreundschaft empfangen. Es hat uns sehr gefreut, Nicolaus zwei Tage kennenlernen- und interviewen zu dürfen. Nie zuvor haben wir einen so fitten und wachen Menschen – in diesem ja beinah biblischen Alter – getroffen.

Wir sprechen darüber wie Nicolaus 1920 in Düsseldorf geboren wird und mit seinen Eltern und seiner kleineren Schwester Mirjam 1934 nach Chișinău, in Bessarabien, heute Moldawien, zur Familie seiner Mutter Jenny auswandert, weil die Eltern spüren, dass sich in Deutschland etwas zusammenbraut. In Chișinău schließt Nicolaus seine Schule am Jüdischen Gymnasium ab und studiert ab 1940 an der »Institutul Politehnic din Chișinău« Bautechnik. Auch hier versuchen Nicolaus‘ Eltern mit Hilfe eines Affidavits in die USA oder nach Argentinien – wo seit 1926 bereits Adele, die Schwester der Mutter lebte, auszuwandern, aber der Versuch misslingt.
Im Sommer 1941 wird die Familie ins Jassauer Ghetto (auch: Iași-Ghetto/ rumänisch Ghetoul din Iași) gebracht. Dort wird Nicolaus nach drei Monaten – zusammen mit etwa 1400 weiteren jungen Männern – zu einer Sammelstelle beordert. Seine Eltern begleiten ihn zum Bahnhof, wo er mit einem Zug zur Zwangsarbeit verbracht wird. »Wir wussten nicht, wohin man uns bringt«, erinnert er sich. An diesem Bahnhof sieht Nicolaus seine Familie zum letzten Mal. Was mit seiner kleinen Schwester, der Mutter, dem Vater und den Großeltern geschieht, weiß er nicht – nur, dass er nie wieder von ihnen hört. »… und dass sich auch keiner bei Tante Adele in Argentinien gemeldet hat. Dabei hatten wir uns versprochen, sollten wir getrennt werden, uns bei Adele wiederzutreffen.«
Es gibt nur ein einziges Foto seiner Eltern, dass die Zeit des Nationalsozialismus überlebt hat – darauf eine junge Frau, Jenny Blättermann, ein Kleinkind, Nicolaus, und der Vater, Isaac Blättermann. Als wir uns das Bild mit ihm ansehen, muss Nicolaus weinen.
Wir machen eine Pause.
Dann berichtet Nicolaus, wie er nach der Trennung von seiner Familie in verschiedene Außenlager von Auschwitz-Birkenau verschleppt wird und dort Zwangsarbeit leisten muss. Zuletzt in den »Gleiwitzer Drahtwerken«, wo er seine künftige Ehefrau Maria, die als Lehrling in den Drahtwerken arbeitete, kennenlernt und wo er schließlich im Dezember 1944, am Heiligabend, von der roten Armee befreit wird. 1945 geht Nicolaus nach Berlin und meldet sich in einem DP-Lager. Er wird in die jüdische Gemeinde in Berlin aufgenommen und trifft hier auch Maria wieder. »Da hat mein Leben neu begonnen.« Ab 1945 arbeitet er in Ostberlin als Bautechniker, heiratet 1946 Maria und bekommt mit ihr zwei Söhne, Michael und René. Auf die Frage, warum er ausgerechnet nach Deutschland ging, sagt er: »Ich habe den Glauben an die Menschheit nicht verloren!« An die Idee einer »Entnazifizierung« glaubte er ohnehin nicht. »Wie kann man etwas oder jemanden entnazifizieren? Was soll das sein?«
1953 verlässt die Familie Berlin und zieht nach Bad Kreuznach, wo Nicolaus als Zivilangestellter bei den amerikanischen Streitkräften als Bautechniker und später als leitender Bauingenieur arbeitet. Gleich nach seinem Umzug ist Nicolaus Mitglied der Jüdischen Kultusgemeinde Bad Kreuznach Birkenfeld. »Ich war der Jüngste in der Gemeinde und die Gemeinde hatte kein eigenes Gotteshaus.« In den 80er Jahren wächst die Gemeinde an – Nicolaus kümmert sich Anfang der 90er-Jahre maßgeblich um die Integration der jüdischen Emigranten aus Osteuropa und nutzt schließlich die Gunst der Stunde, als er nach der Standortverlegung der US-Armee deren Kirchenkapelle für die Gemeinde erwerben kann und diese zu einer Synagoge umgestalten lässt. So kann er sich 2002 den »Traum einer eigenen Synagoge erfüllen«. Sein Sohn René gestaltet ein fulminantes Fenster-Glaskunstwerk für die Synagoge. Dieses umfasst Themen aus dem jüdischen Kulturkreis – künstlerisch in Szene gesetzt durch kryptische Hintergründe, bildhafte Überlagerungen und farbliche Verschmelzungen zu einer Gesamtkomposition verdichtet. Heute ist Nicolaus Ehrenvorsitzender der Gemeinde und engagiert sich ehrenamtlich für den Erhalt der Synagoge.



Als wir ihn besuchen, fragen wir Nicolaus, warum er uns eigentlich ein Interview gibt: »Na ich will erzählen, was junge Menschen damals mitgemacht haben. … Die ganze Familie zu verlieren, und trotzdem hat man damit weitergelebt. … Ich habe mir eine neue Familie aufgebaut. Ich habe etwas geschafft, ich habe meinen Beitrag geleistet.«
Und auf die Frage nach seinen kommenden Plänen antwortet er mit einem Schulterzucken: »Ich will keine Termine mehr machen!« Doch dann mit einem verschmitzten Lächeln: »Außer im November zu der Gedenkveranstaltung in Hamburg, da gehe ich vielleicht hin. Und ein Buch über mein Leben will ich noch schreiben … und zu meinem Geburtstag, da werde ich für alle meine Gäste singen, und zwar ›Hallelujah‹ von Leonard Cohen!«
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In diesem Sinne, lieber Nicolaus Blättermann, wir wünschen dir alles nur erdenklich Gute, viel Kraft und Gesundheit für das nächste – das 106. Lebensjahr – und freuen uns, dass wir dich kennenlernen durften.
Nicolaus Blättermann wird am Mittwoch, den 1. Oktober, 105 Jahre alt.
Kleiner Zusammenschnitt unseres Interviews:
Bericht und Interview von Felizitas Borzym und Sarah Friedrich