Eine Veranstaltung in der Französischen Botschaft Berlin am 15. Dezember 2025
Bis auf den letzten Platz gefüllt ist das Auditorium der Französischen Botschaft in Berlin. Vier Schulklassen aus Berlin und Brandenburg sowie historisch interessierte Erwachsene folgen augenscheinlich gebannt der Unterhaltung auf dem Podium. Dabei wird hier ausschließlich und ohne Übersetzung Französisch gesprochen. Teilweise ist der harte Akzent des Midi, des französischen Südens, zu vernehmen. Tatsächlich geht es an diesem Abend um Marseille, die Metropole am Mittelmeer. Die Gespräche kreisen um mehrere Tage vor fast 83 Jahren in der Hafenstadt, im Januar 1943. Drei Überlebende erzählen vom Ende ihrer glücklichen Kindheiten, berichten, was ihnen und ihren Nachbarn unter deutscher Besatzung widerfahren ist: allesamt Menschen, die entsprechend der Forderungen der Besatzer und nach Absprachen zwischen der Wehrmacht, der SS und der französischen Kollaborationsregierung (Vichy) aus dem historischen Stadtkern von Marseille verschwinden sollten.



Vertreibung, Verschleppung und Sprengung Haus für Haus: Das Ende des Viertels St. Jean
Über der Gesprächsrunde werden Luftfotos des historischen Gassengewirrs am Alten Hafen projiziert. Rue de la Rose, Rue Saint-Laurent, Rue Château Joli, so hießen die Straßen, in denen die Elternhäuser der Beteiligten standen. Die Lebensverhältnisse waren bescheiden in diesem Stadtviertel, in dem es auch behördlich ausgewiesene Orte der Prostitution gab. Die drei Gewährsleute, die zunächst die Lebenswelt ihrer Kindheit schildern, betonen die große Solidarität der Einwohnerinnen und Einwohner untereinander, über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg. Im Januar 1943 teilen französische Gendarmen dann den Familien und vielen anderen, insgesamt 23.000 Menschen, mit, dass sie ihre Häuser unverzüglich zu verlassen hätten. Kurz danach rücken Sprengmeister der deutschen Wehrmacht an.
Das Viertel St. Jean wird systematisch dem Erdboden gleichgemacht, so wie es der Reichsführer-SS, Heinrich Himmler, befohlen hatte. Marseille, das ist für ihn der »Saustall Frankreichs«. Die Vertreibung ist einerseits Teil der nationalsozialistischen Besatzungs- und Vernichtungspolitik und kommt andererseits den Interessen des Vichy-Regimes entgegen, das die Stadt Marseille unter Zwangsverwaltung gestellt und bereits Sanierungspläne für St. Jean entwickelt hatte. Unter dem Programm der »Revolution nationale« soll die französische Gesellschaft umgebaut werden. Der Sozialstaat erfährt eine Ausweitung, zugleich verlieren jedoch die alten Prinzipien von 1789, Liberté, Fraternité, Égalité ihre offizielle staatliche Bedeutung. Es geht um die Errichtung einer neuen sozialen Ordnung, einer Ordnung der Ungleichheit anstelle der liberalen Demokratie.



Keine Erinnerungskonkurrenz
Claude Arovas (84), Suzanne Fritz (84), Antoine Mignemi (88) sind Kleinkinder, als sie mit ihren Eltern Ziel dieser Menschenjagd werden. Erinnerungen hat nur noch Antoine. Er verwendet mehrmals das Wort Trauma, um zu beschreiben, welche Spuren der Januar 1943 hinterlassen hat. Das Trauma, in das Antlitz einer verzweifelten, ängstlichen Mutter blicken zu müssen. Wie so viele im Hafenviertel waren die Mignemis aus Italien nach Frankreich eingewandert, und ihre Angst war, abgeschoben zu werden. Stattdessen müssen die Vertriebenen Straßenbahnen besteigen und sich am Vorortbahnhof Arenc in Viehwagons zwängen. Sie kommen nach Fréjus an der Côte d’Azur, in ein Auffanglager. Die Männer werden von den Frauen und Kindern getrennt. Und wieder ein Trauma: Der Vater ist weg, den der kleine Antoine als Beschützer der Familie wahrnimmt. Die Mignemis gehören zu denen, die relativ rasch nach Marseille zurückkehren können, aber dürfen sich dem Hafenareal nicht nähern und sind zunächst wohnungslos. Claude Arovas stammt aus einer jüdischen Familie. Auch die Arovas´ sind von der Razzia betroffen. Ihr Schicksal ist ein gänzlich anderes. Seit Juli 1942 liefern die Behörden des französischen Vichy-Regimes jüdische Kinder, Frauen und Männer an die deutsche SS aus. Das Ziel der Transporte sind die deutschen Vernichtungslager im besetzten Polen. Der Vater von Claude wird nach Sobibor gebracht. Zwei Stunden nach Ankunft sind die Verschleppten tot, ermordet in den dortigen Gaskammern. Die Mutter entkommt dieser ersten Verschleppung. Die SS deportiert sie zwei Monate später. Claude überlebt im Versteck.
Vor dem Hintergrund der geschilderten, sehr unterschiedlichen Verfolgungs- und Verlusterfahrungen betonte der Moderator des Abends, Julien Acquatella, es gehe nicht darum, die Erinnerungen gegeneinander auszuspielen und in Konkurrenz treten zu lassen. Gemeinsam sei ihnen, dass ihre Familien von den Behörden zeitgenössisch als »Indésirables«, als »Unerwünschte« betrachtet worden seien. Die Betroffene Suzanne Fritz erinnert daran, dass die städtische Mehrheitsgesellschaft in Marseille der Vertreibung und Zerstörung indifferent oder eher wohlwollend gegenüberstand. Die Erinnerung daran blieb deswegen lange eine Angelegenheit der Verfolgten. Ihr sei es deshalb heute wichtig, gerade mit der jüngeren Generation darüber zu sprechen. Sie bittet und ermutigt diskret eine junge Frau in der zweiten Reihe, aufzustehen. Es ist ihre Enkelin, die auch nach Berlin angereist ist, ein bewegender Moment als Brückenschlag zu den vielen anwesenden Jugendlichen im Raum.
Das Ende der Verleugnung
Der Abend ist eine Premiere mit Tragweite, auch wenn er sich an ein frankophones und damit begrenztes Publikum richtet. Dass über die »Unerwünschten« auf dem Boden einer französischen Auslandsvertretung geredet wird, dass die Betroffenen selbst sprechen, und dass dies ausgerechnet in Berlin geschieht, wird mehrmals herausgestellt. Explizit verweist Julien Acquatella hier auch auf das deutsche Ausstellungsprojekt »Die Verleugneten« [Link] der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Dieses hat ebenfalls Neuland betreten, in dem es die Erfahrungen von als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« Verfolgten in den Mittelpunkt stellt. In ihrem europäischen Kapitel geht die Ausstellung auch auf die Vorgänge im Stadtviertel St. Jean ein.
In Marseille selbst haben sich Betroffene und Angehörige mittlerweile im Collectif St. Jean organisiert, und Rechtsanwalt Pascal Luongo, selbst Angehöriger einer vertriebenen Familie, vertritt ihre Interessen gegenüber dem französischen Staat. 2019 reichte er im Namen von vier Überlebenden und vier Angehörigen eine Klage gegen Unbekannt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein. Die Hoffnung, noch Verantwortliche zu finden ist gering. Umso wichtiger ist dem Collectif, die historischen Fakten beim Namen zu nennen. Was am 24. Januar 1943 in Abstimmung zwischen der französischen Polizei, der Wehrmacht und der SS begann, war keine Evakuierung, wie es in Marseille lange verharmlosend bezeichnet wurde, sondern als Massenrazzia eine polizeiliche Gewaltmaßnahme gegen die Bevölkerung eines ganzen Stadtviertels.
Ein Beitrag von Dr. Ulrich Baumann







